27. Wave Gotik Treffen 2018 - Der poetisch-humoristisch-gotisch-kritische Rückblick auf das Phänomen
Nun, da die Fusselball-WM mit dem goldenen Phallus in den Händen der Landsmänner des Rosa Cruxes, endlich vorbei ist, und ein herrlicher Herbst fast um die Ecke lächelnd lauert, haben manche das Fadenkreuz auf M'era Luna eingestellt. Vorher kommt aber noch der längst überfällige Rückblick auf das Wave Gotik Treffen, welches sich in diesem Jahr 27. Mal am verlängerten Pfingstwochenende in Leipzig stattfand.
Fotos: Diana Sickrodt
Dass das Wave Gotik Treffen längst eine Touristen Attraktion und weltweit bekanntes Festival ist sollte mittlerweile jedem bekannt sein. Vielleicht rangiert es ja bald selbst in der "Dias des las muertas" Liga was Massenansturm und Karnevalsstimmung betrifft. Da "Goth" ja gerade unheimlich hip ist, fanden sich dieses Jahr aber auch unter den Bändchenbesitzern etliche WGT Touristen. Doch sollte der Hype auch wieder abnehmen - es bleibt das Gafferklientel am Rand. Dieses wird durch massenweise, kostenfreie Veranstaltungen auch entsprechend abgeholt. Auch das heidnische Dorf hat mittlerweile Konkurrenz direkt vor der Haustür, wo sich Tand-Stand an Tand-Stand reihte. Indikator für das "Angekommensein" im Mainstream. Entsprechend missmutig war da der gemeine Festivalgast, der aus Gründen der Flucht vor ebenjenem Publikum sich diesem jetzt gegenüber stehen sah. Dank Wegfall eines weiteren Veranstaltungsortes, nach Parkbühne und WerkII (jetzt der Kohlrabizirkus), gibt es außer der Agra mittlerweile keine entsprechend große Konzerthalle mehr. Wohin mit den zehntausenden Besuchern ?
Einlassstopp war leider die Devise des diesjährigen Festivals. Ich hörte von Besuchern die 4x am Tag in kein Konzert kamen und am Abend leicht resigniert auf dem Zeltplatz feierten. Selber erleben konnte ich die Schlangen täglich ab 12 rings um das Schauspielhaus, wo sich im Konzertsaal eine unangenehme „Strandliegen-Besetzer“ - Mentalität abzeichnete.
An dem Freitag kamen wir leider erst zum letzten Lied von Buzz Kull im Stadtbad an. Fragt mich nicht warum – WGT halt. ;-) Wir konnten aber gemütlich die wichtigeren Wellen von Detachments an uns rollen lassen. Kristallklarer britischer Wave zwischen Post-Punk-Säulen. Das Duo war locker und professionell auf der Bühne. Ihre Lieder waren mitreißend und mit einem minimalen, für den Ort optimalen Tonbild – wie alle Bands, die dieses Jahr hier spielten, zumindest wenn ich einen Blick auf den Spielplan werfe. Komplexere, bombastischere oder gar krachigere Musik wird schnell zu viel für die ehemalige Badehalle.
Der Treffen-Charakter des WGTs wurde im Außenbereich bei Bratwurst und Bier in Anspruch genommen. ;-) Währenddessen konnten wir ein stetiges Zuströmen von Besuchern beobachten; eine schwarze Reihe formte sich rasch der Straße entlang und blieb dort stehen, auch wenn dauernd Leute eingelassen wurden. Boy Harsher war schuld. Wir taten es ihnen gleich, und das Badehaus verwandelte sich schlagartig in eine feuchtwarme Sauna. Es war kaum zum Aushalten. Sämtliche Notausgänge und Fluchtwege waren versperrt von den eindringenden Massen. Am Ende Sardinenbüchse und Schnappatmung. Ein Gespräch mit der Security ergab das übliche Problem: man wolle doch alle glücklich machen, es stünde doch noch eine Riesenschlange an, man hat nicht mitgezählt, wie viele drinnen waren. Schade, da die dunkle, teils hypnotische, teils 80er-retro Mucke aus den Vereinigten Staaten sonst live, wie auf Platte, als „geil“ zu bezeichnen ist. Naja, raus drängeln und weiter. Es ist ja auf WGT selten so, dass es keine Wahlmöglichkeiten gibt. Es qualmt vom Grill. Zeit zum Wenden.
Das nächste, letzte und beste Spektakel des Freitagabends hieß Einar Selvik. Der Maestro hinter dem mächtigen Folk-Ensemble Wardruna zeigte was er kann. Mit Leier, Horn und seiner eigenen Röhre. Sowohl Wardruna-Material als auch eigene Lieder und Interpretationen von Runengedichten interpretierte er solo a capella. Außer Gänsehaut verlieh er uns Flügel… und holte uns zwischendurch zurück mit brillanten Kurzvorträgen über Instrumente, Traditionen und Rituale der (Nord-)Europäischen Vorfahren. Eine seiner Kernaussagen war, dass er mit seiner Bardenkunst nicht versucht etwas Altes nachzustellen, sondern etwas Neues daraus zu kreieren. Er, das Theater und wir waren eins, durch eine mythische Reise. Zumindest unsere Augen waren nicht trocken, und es herrschte eine würdevolle Andacht im Publikum – danke! Und takk, Einar. Det var magiskt.
Die ersten Atemzüge des musikalischen Sonnabendprogrammes waren echte Atemzüge. Wer Kraftwerks Elektro-Kardiogramm kennt, weiß ungefähr, wie es erneut in dem Schauspielhaus anfing. Nur ohne das Herzklopfen und mehr Stöhn-Ton. Wie ein Gewitter erschallten die ersten Töne des sibirischen „Nytt Land“ Trios, die uns Beschwör-Gesang mit Percussion vorsetzten. Aus einem Waldschrat wurde ein Riese. Schamanengesänge. Als mystisch und nebelig könnte man das Konzert zusammenfassen. Und ein bisschen wie ein Gang zur Sweat Lodge (Schwitzhütte). Sehr spannend zu erleben war ein Phänomen, dass Herr Selvik am Abend vorher fast beschworen hätte. In einem seiner Kurzvorträge berichtete er davon, wie schwierig es sei, auf einem echten Horn zu spielen und klare Töne herauszubringen. Jedes Konzert wäre eine neue Herausforderung mit der entsprechenden Überraschung zum Beginn des Konzertes. Alle hielten entsprechend den Atem an, als er ansetzte zu spielen. Aber die Töne, die er an dem Abend seinem Horn entlockte, waren quellwasserklar und zauberhaft. Das Gegenbeispiel erlebten wir dann prompt zur „Nytt Land“ Darbietung, als eben genau das entgegengesetzte passierte und das Horn die unschönen, absterbenden Töne von sich gab.
Zur Mitternacht trat dann auch wieder Herr Selvik auf (der übrigens ein Lied Namens Nytt Land hat), diesmal mit seinen Mitmusikanten von Wardruna. Ich schließe mich hier schlicht und einfach der bereits mehrfach geäußerten Kritik an, nämlich erstens die, dass diese Band atmosphärisch zur Agra-Halle ähnlich gut passt wie der Kammerchor auf dem Rummel. Ein sehr schwieriger Fall mit der Bühnenauswahl, okay, verständlich – Wave-Gotik-Treffen und die Locations sind sowieso an sich Stoff für einen Roman.
Leider war das nicht das einzige Problem in der Agra-Halle. Es wurde mit gnadenloser Quantität und Ausbreitung geschnattert, was nicht nur bei den ruhigeren Passagen gestört hat. Die Störer wurden durchgehend sowohl nett ,als auch in scharfem Ton gemahnt, die Klappe zu halten. Eine Idee wäre sie mit Chili-Erziehungsöl zu bestreichen und auf den Rost zu schmeißen, bis sie sich als Briketts nützlich zeigen. Mit Fokus und Ausblendung konnte man sich eine sehr schöne und sichere Präsentation der Norweger zu Gemüte führen. Gegen 2 Uhr war das Konzert vorbei und die Kräfte schon am Ende.
Ein kurzes Klagelied wird der Volkspalast-Kuppelhallen-Tonanlage gewidmet, wo möglicherweise irgendeine Kupplung falsch verkuppelt war. Die technische Problematik äußerte sich durch lautes Knacken und Schnappen in den Lautsprechern. In den Vorjahren hatten zum Beispiel „Drangsal“ oder „Whispering Sons“ die Ehre ihre Auftritte mit diesen Geräuschen gewürzt zu bekommen. Dieses Jahr konnten die Zuhörer dasselbe Vergnügen an Sonntag mit „A Projection“ teilen. Die noch jungen Schweden ließen sich jedoch nicht davon stören und lieferten eine lebendige, liebevolle Show. Abwechslungsreicher, melodiestarker Post-Punk vom Feinsten. Wir freuen uns auf das nächste Album, wovon wir ein bisschen hören durften.
Geräusche der nicht-melodischen Art konnte man sich später am Nachmittag im Täubchenthal zum festivalmüden Gemüte führen. Der perfekte Sound zum Aufwachen. Das Einmann-Projekt Mono No Aware aus dem Ruhrpott lud ein zu einem gnadenlosen tribalen Noise-Trip des höheren BPM-Werts und hypnotisierte die Menge in Tanztrance. Leif Künzel bewegte sich manisch und beherrschte spielend die Knöpfe und Regler seines Pultes. Blitzende Irrgänge hämmernder Bässe, ständig unter dem Befehl einer Staccato-Peitsche aus Stahl. Es dauerte eine Weile, ehe man sich nach der Rückkehr nach draussen wieder an die relative Stille und an die Lampe im Himmel gewöhnt hatte.
Zurück zum Volkspalast, allerdings in der gesegneten Kantine. Es ist Pfingstmontag und egal wie talentiert (oder nicht) manche Künstler mit Laptop und Drehknöpfe sein mögen, ist es immer wieder erfrischend zu sehen und hören, wenn innerhalb der verschiedenen „Gothic“-Genres tatsächlich live gespielt (und nicht nur gesungen) wird. Das Wiesbadener Beinhaus ist ein Beispiel, und ich erlaube mir – nach sofortiger Hirnwäsche einer Kurzvisite ihrer Webseite – ihre eigenen Worte zu zitieren: „Wir geben der elektronischen Musik einen schwitzenden Körper zurück. Unsere Performance ist strapaziös und intensiv. Stahl und Stimme, Beats und Bässe. Unsere Musik braucht die Bühne und das Publikum.“ Eine kurze und prägnante Beschreibung, ohne „Tralala“. Schweiß war ein essentieller Bestandteil bei Beinhaus, denn hätte das Trio nicht geschwitzt, dann hätte es eher eine leisere, ruhigere Musikstil gehabt. Industrial fast à la frühe Neubauten, nur mehr geradeaus; so gut wie durchgehend rhythmisch und elektronisch, ohne ein ständiges, apathisches „eins-zwei-eins-zwei…“ zu sein. Schrott sei Dank!
Principe Valiente war der letzte Akt der offiziellen Interpreten für uns anno MMXVIII. Was soll ich dazu sagen? Zweimal verpasst und jetzt… hätte ich so einer gewesen können, der brüllt: „Spiele die alten Sachen!“ Immerhin kam ein Lied von dem grandiosen, mit Gitarrentremolo gespeckten, Shoegaze-Wave-Debut. Was tun – die poppigere, etwas Suede-klingende-Richtung ist dann doch zu „mainstreamig“. Wenn der Frontmann dann auf der Bühne auf etwas stolpert und in eine eher liegende Position landet nennt sich das Schadenfreude.
Ein kleiner Tipp an alle Leipziger zum Schluss für nächstes Jahr: Der Laden „Culteum“ hat wenigstens eben 5 € Aufschlag pro Ticket verlangt und bestätigte auf Auskunft das wäre die Vorverkaufsgebühr vor Ort. In so einem Fall lohnt es sich auf jeden Fall eine Sammelbestellung auf der WGT-Seite zu betätigen.
Im Rückblick hoffen wir mit Blick auf das nächste Jahr, dass sich wieder größere Eventlocations finden und /oder sich die Plätze wieder etwas verdichten. Logistisch ist es unmöglich verschiedene Orte an einem Tag zu besuchen und trotzdem drei bis vier Konzerte sehen zu können. Der grotesken Karnevalsstimmung in der Innenstadt wird man nur noch dadurch entgehen können, indem man diese in Zukunft meidet wie die Pest.
Zurück zum Sommer 18, es ist heiß und das WGT liegt schon eine Weile zurück. Widmen wir uns wieder dem kühlen Bier. Es riecht seit langem verbrannt von dem Grill, zeit die Würstchen bei der Grillparty umzudrehen. Schwarz. Damit ist der der farblichen Vorfreude aufs nächste Jahr schon mal Genüge getan.
Impressionen (Zufallswiedergabe):
Fotografin Diana Sickrodt